Gestalttherapie steht an der Basis der in den letzten 25 Jahren entwickelten neuen aktiv
emotionsfokussierenden, prozess- und erfahrungsorientierten Therapieverfahren. Ihrerseits
wurzelt sie insbesondere in der Gestaltpsychologie und in der psychoanalytischen Entwicklungsarbeit
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, namentlich in der Entwicklung der "aktiven Therapie"
Ferenczis, sowie der Arbeiten einer Reihe anderer enger Schüler Freuds. Der Nationalsozialismus
hat die Entwicklung der deutschen Psychoanalyse und der Forschungszusammenhänge um die
Gestaltpsychologie jäh unterbrochen. Vermutlich war die analytische Gesellschaft zu stark
von diesem politischen Trauma erschüttert, um Entwicklungen der Therapiemethode in dieser Zeit
integrieren zu können, was schliesslich auch zum Bruch der Begründer der Gestalttherapie mit der
Psychoanalyse führte. Bis heute sind Wurzeln der Gestalttherapie und die geleisteten therapeutischen
Weiterentwicklungen nicht hinreichend aufgearbeitet.
Verhaltenstherapeuten, die nach der kognitiven aktuell auch die emotionale Wende vollziehen, scheinen
sich in ihren verhaltenstherapeutischen Methoden zunehmend der emotions- und erlebnisaktivierenden
Herangehensweise, wie sie ursprünglich in der Gestalttherapie entwickelt worden ist, zu öffnen und
anzunähern. In der herausragenden Metaanalyse von Orlinsky, Grawe & Parks (1994), die Zusammenhänge
zwischen Variablen von Therapieprozess und -wirkung untersucht hatten, erweist sich die der
Gestalttherapie entstammende Methode, den Patienten auf das Prozesshafte seines unmittelbaren
inneren Erlebens zu lenken, als therapeutisch besonders wertvoll. Revenstorf (1996, S. 140),
ein bekannter Vertreter der behavioralen Therapieorientierung, merkt an, dass Gestalttherapie
für die Arbeit mit emotionalen Prozessen dann als optionales Verfahren betrachtet werden kann,
wenn Emotionen als "notwendige Voraussetzung der Handlungssteuerung" gelten können. Die aus Methoden
der Gestalttherapie und anderer humanistischer Verfahren heraus entwickelte prozess-erfahrungsorientierte
Therapie bewertet Grawe (1998) als Verfahren mit einer soliden Basis in der empirischen und theoretischen
Grundlagenforschung.
Trotz dieser historischen Brüche und aktuellen Berührungspunkte droht auf Grund des langjährigen mangelnden
akademischen Engagements der Gestalttherapeuten das Wissen darum, wie die gestalttherapeutischen Ansätze
erarbeitet und bis heute weiterentwickelt wurden, verloren zu gehen. Hintergrund ist die lange Zeit
bestehende Abneigung von Gestalttherapeuten gegenüber wissenschaftlichem Herangehen. Dieses hat sich
in den vergangen 20 Jahren teilweise verändert. Seit Erscheinen meiner ersten Abstractsammlung (Strümpfel
1991) hat sich die Anzahl der vorliegenden Studien zur Gestalttherapie und zu den aus ihr entwickelten
Verfahren mehr als verdoppelt.
Die vorliegende Arbeit versucht den Erfahrungsschatz der Gestalttherapie systematisch zu dokumentieren.
Hierzu wird außer einer systematischen Aufarbeitung der Forschungsbefunde zu Therapieprozessen und -wirkungen
auf der Basis vorliegender Studien auch eine Dokumentation von Einzelfallberichten, -analysen und -studien
vorgelegt. Diese eröffnen auch dem Praktiker, der an gestalttherapeutischen Arbeitsweisen interessiert ist,
den Zugang zu diesem Erfahrungsschatz. Insofern ist dieses Buch nicht nur für den wissenschaftlich
Interessierten konzipiert, sondern wendet sich explizit auch an praktisch arbeitende Therapeuten, die
auf der Suche nach Arbeiten zu bestimmten Themenbereichen sind.
Wiederholt wurde der Autor auf wissenschaftliche Arbeiten hingewiesen, die z.B. in psychosomatischen
Kliniken erstellt, aber kaum bekannt geworden sind. Insbesondere ist dies dann der Fall, wenn diese
Arbeiten durch das normale Erfassungsraster der internationalen Datenbanken fallen, z.B. weil sie im
Eigendruck veröffentlicht wurden. Mitten in der Arbeit an diesem Buch erhielt ich Gelegenheit, in einem
gemeinsam mit den anderen humanistischen Schulen erstellten Handbuch die wichtigsten Befunde der vorliegenden
Datensammlung bereits in englischsprachiger Kurzform (d.h. ohne Metaanalysen, Abstractsammlung, tabellarische
Aufbereitung etc.) zu veröffentlichen (Cain & Seeman 2001). In der engen Zusammenarbeit mit den Kollegen der
anderen humanistischen Schulen erschloß sich mir ein neuer Zugang zu den gemeinsamen Wurzeln in humanistischer
Theorie, Praxis, therapeutischer Haltung und wissenschaftlichen Ansätzen. Indessen könnte sich die Integration
des Erfahrungswissens verschiedener humanistischer Schulen als eine der größten und wichtigsten
Herausforderungen auf dem Weg zu einer integrativen Therapie erweisen.
Eine zweite wichtige Erfahrung stellt meine persönliche Begegnung mit Leslie Greenberg dar. Seine Arbeiten
versuchen, den vielfach intuitiven Erfahrungsschatz der Gestalttherapeuten, ihr implizites therapeutisches
Handlungswissen in der Arbeit mit emotionalen Prozessen explizit zu machen. Unter diesem Gesichtspunkt sehe
ich auch die Entwicklung der prozess-erfahrungsorientierten Therapie, die eine Abbildung humanistischen,
insbesondere auch gestalttherapeutischen Erfahrungswissens in einem wissenschaftlich fundierten Raum darstellt.
Aus diesem Grund habe ich der prozess-erfahrungsorientierten Therapie in diesem Buch einen eigenen Abschnitt
mit einer Kurzdarstellung des theoretischen Ansatzes und therapeutischen Vorgehens gewidmet. Ich hatte
Gelegenheit, an der Übertragung des Therapiemanuals ins Deutsche (Greenberg, Rice & Elliott 2003) beratend
teilzunehmen. Robert Elliott, der an der Entwicklung dieses Verfahrens mit beteiligt war, bezeichnete die
prozess-erfahrungsorientierte Therapie einmal im persönlichen Gespräch als hybrid, als Zwitterverfahren
zwischen klientenzentrierter und Gestalttherapie. Die wissenschaftliche Entwicklung neuer Therapieformen
wie der prozess-erfahrungsorientierten Therapie stellt hier einen bedeutsamen ersten Integrationsversuch
vor allem von Gesprächs- und Gestalttherapie dar.
Die Therapieprozess- und Wirksamkeitsstudien an der York-Universität unter Greenbergs Leitung wurden in der vorliegenden Arbeit in einer eigenen Übersicht ausgewertet. In einer Serie von Studien konnte nachgewiesen werden, dass typisch gestalttherapeutische Dialogformen zu einer größeren Erfahrungstiefe, emotionaler Aktivierung und Bewusstheit der Gefühle führen als klientenzentriertes Spiegeln, kognitives Vorgehen und teilweise auch emotionales Fokussieren. Ein Zusammenhang zwischen diesen aktivierten Prozessen beim Patienten und einem positiven Therapieergebnis konnte in den meisten Studien nachgewiesen werden.
Unter den mehreren hundert Arbeiten, die ich im Verlauf der Arbeit an dieser Dokumentation gesichtet habe, fanden sich insgesamt 37 veröffentlichte und 25 unveröffentlichte Wirksamkeitsstudien, die mit "echten" Patienten zu klinisch relevaten Problemen durchgeführt worden waren, sowie 41 Untersuchungen zum Therapieprozess. Hinzu kommen zahllose Analogiestudien, womit Untersuchungen gemeint sind, die mit Personen, die keine klinisch relevanten Probleme aufweisen, durchgeführt wurden. Die Darstellung der Prozess- und Wirksamkeitsstudien erfolgt dabei inhaltlich gegliedert im Text, wie auch in tabellarischer Form. Übergreifend, dass heißt die Befunde vieler Studien zusammenfassend, findet eine kritische Bestandsaufnahme auf metaanalytischer Ebene statt.
In einer Reihe älterer Metaanalysen schien zunächst beim Vergleich der verschiedenen therapeutischen Orientierungen die behaviorale Therapie die wirksamste zu sein. Dem gegenüber konnten einige Metaanalytiker nachweisen, dass die Zugehörigkeit einer Forschergruppe zu einer therapeutischen Schule einen wesentlichen Verzerrungsfaktor darstellt, der zu diesem Ergebnis geführt hat (Luborsky et al. 1999, 2002, 2003, Elliott 2001, Elliott et al. 2004). Es scheint, als beeinflusste die Überzeugung des Forschers, welche Behandlungsform wirksamer ist, auch das Ergebnis eines Therapievergleichs. Luborsky et al. (1999, 2002) kommen in ihren Analysen von Vergleichsstudien zwischen kognitiver, behavioraler, dynamischer und Pharmakotherapie zu diesem Schluss. Elliott ergänzt die Forschungsarbeiten von Luborsky et al. (1999, 2002) für den Vergleich kognitiv-behavioraler und humanistischer Therapien. Bezogen Elliott et al. (2004) die Zugehörigkeit einer Forschergruppe zu einer bestimmten therapeutischen Orientierung bei der metaanalytischen Auswertung von Therapievergleichsstudien mit ein, zeigte sich, dass sich die Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen kognitiv-behavioraler Therapie und den verschiedenen humanistischen Therapieformen nivellieren.
Auch ich bin der Frage nach Verzerrungsfaktoren in Metaanalysen nachgegangen. Über zwei Modellrechungen, die ich auf der Basis realer Eckdaten durchgeführt habe, lässt sich belegen, dass, wie Smith & Glass (1977) sowie Smith et al. (1980) bereits feststellten, Unterschiede in den Forschungsmethoden zu den vermeintlichen Wirksamkeitsunterschieden zwischen den Therapien in den älteren Metaanalysen geführt haben. Eine hier durchgeführte metaanalytische Auswertung von Studien, die gestalttherapeutische Methoden mit kognitiv behavioraler Therapie vergleichen, ergibt konvergierend mit Elliott et al. (2004), dass global keine Unterschiede zwischen kognitiv-behavioraler Therapie und Gestalttherapie sowie den erfahrungsorientierten Therapien mit den gestalttherapeutischen Interventionen festzustellen sind. Auch im Bereich der Arbeit an den unmittelbaren Symptomen, die traditionell als Domäne der Verhaltenstherapien gilt, finden sich keine Unterschiede zwischen kognitiv-behavioraler Therapie und den ganzheitlich arbeitenden erfahrungsorientierten Therapien. Vielmehr könnten die Ergebnisse im Bereich interpersonaler und sozialer Veränderungen auf eine grössere Nachhaltigkeit der Verbesserungen unter Gestalttherapie gegenüber kognitiv-behavioraler Therapie hinweisen. Einzelergebnisse belegen hierzu, dass die erfahrungsorientierten Verfahren zu einer besseren Lösung interpersonaler Konflikte und der Fähigkeit Kontakte zu halten (bei psychiatrischen Patienten) führen. Wirksamkeitsunterschiede zwischen verschiedenen erfahrungsorientierten Ansätzen, respektive Gestalttherapie und prozess-erfahrungsorientierter Therapie, lassen sich nicht nachweisen. In ihrer Metaanalyse kommen Elliott et al. (2004) zu dem Ergebnis, dass prozess-direktive erfahrungsorientierte Therapien etwas, d.h nicht signifikant höhere Effektstärken aufweisen als kognitiv-behaviorale und nicht-direktive klientenzentrierte Therapien (ebd., S. 528). Die Autoren kommen auf der Grundlage dieser Datenbasis zu der Einschätzung, dass die aktiv emotionsfokussierenden prozess- und erfahrungsorientierten Therapieverfahren, einschließlich der Gestalttherapie, in der Gruppe der humanistischen Therapien zu den wirksamsten gehören. Indessen ist weitere Forschung notwendig, um diese Einschätzung abzusichern.
Gestalttherapie selbst ist als Therapieverfahren kein Produkt zielgerichteter, systematischer wissenschaftlicher Forschung. Vielmehr begründet sich Gestalttherapie in der praktischen Erfahrung und der Synthese einer Fülle von Einflüssen, zu denen auch wissenschaftliche zählen. Von Fuhr, Sreckovic & Gremmler-Fuhr (1999), Bocian & Staemmler (2000), Hartmann-Kottek (2004) und anderen wurden umfassende historische und theoretische Aufarbeitungen der Hintergründe der Gestalttherapie geleistet. Eine Skizze der wichtigsten theoretischen Einflussgrößen findet sich im vorliegenden Band. Die wissenschaftskritischen Vorbehalte vieler Gestalttherapeuten richten sich vor allem gegen Versuche, den menschlichen Veränderungsprozess unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen erfassen zu wollen. Einige Aspekte dieser wissenschaftskritischen Diskussion unter Gestalttherapeuten habe ich versucht, hier in Kapitel 1.3.1 in drei Abschnitten zusammenzufassen.
In diesem Buch wird wissenschaftliche Arbeit als ein Abbildungsprozess des realen therapeutischen Geschehens aufgefasst. Natürlich können wir die Qualitäten des heilsamen Charakters einer Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers, wenn überhaupt, nur schemenhaft erfassen. Wir betrachten in der wissenschaftlichen Arbeit alleine die Abbildungen des therapeutischen Veränderungsgeschehens. Den Abbildungen fehlen Lebendigkeit und Gefühl, dennoch spiegeln sie, mehr oder weniger verlässlich, die Veränderungen unserer Patienten. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, wie stark wir uns von wissenschaftlicher Arbeit gefangen nehmen lassen, ob wir uns auf sie fixieren und sie für die einzige Realität erklären. Sich auf die wissenschaftlichen Abbildungen zu fixieren, birgt aus Sicht vieler Gestalttherapeuten die Gefahr einer Gefangenschaft im Reduktionismus. Andererseits bildet die Abbildung therapeutischer Prozesse auf wissenschaftlichen Instrumenten heute die zentrale schulenübergreifende Kommunikationsbasis. Statt sich diesem Diskurs zu entziehen, fordert Willi Butollo in seinem Vorwort zu diesem Buch Gestalttherapeuten zur Selbstreflexion heraus. Macht die wissenschaftliche Erfassung therapeutischer Arbeit nicht auch Angst? Findet sich nicht bei vielen praktisch arbeitenden Therapeuten im Hintergrund auch Angst vor Überprüfung - und zwar nicht allein der Überprüfung der therapeutischen Erfolge, sondern, viel gravierender, der Überprüfung eingeschworener Überzeugungen?
Die hier vorgelegte Sammlung von Forschungsbefunden stellt die bislang umfassendste Forschungsübersicht zur
Gestalttherapie dar. Aufgrund des Datenumfangs, der sich bei der Zusammenstellung der Arbeiten ergab, wurde
hier in mehrerer Hinsicht pragmatisch verfahren. Vor allem stellt dieses Buch ein Arbeitsbuch dar, das so
erschöpfend wie möglich versucht, Arbeiten unterschiedlicher Standards - von der Einzelfalldarstellung und -
analyse, über kontrollierte Therapieerfolgs- oder Vergleichsstudien bis zur Metaanalyse - zu dokumentieren und
damit zugänglich zu machen für wissenschaftliche und praktische Aufgaben. Der Leser kann allgemein-inhaltliche
Informationen zu einzelnen Arbeiten dem beschreibenden Text oder den Stichwortverzeichnissen des Buches entnehmen. Inhaltliche Details z.B. zu den formalen Aspekten der wissenschaftlichen Herangehensweise finden sich dann in den Tabellen sowie der angefügten Abstractsammlung. Im Zentrum steht dabei bewusst der Versuch, unterschiedliche Forschungsrichtungen und -ergebnisse inhaltlich weitgehend verständlich aufzubereiten, auch wenn sich dies nicht immer ganz einfach gestaltete. Damit wendet sich dieses Buch insbesondere auch an Praktiker, in der Hoffnung, unter Gestalttherapeuten weiteres Interesse für eine Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs zu wecken.
Unter dem gewählten Primat einer inhaltlich-verständlichen Darstellung von wissenschaftlichen Befunden bleiben die Übersichtstexte zuletzt skizzenhaft. Hier wird trotz der vielen kritischen Anmerkungen zum Forschungsstand und dessen Aufarbeitung, z.B. im metaanalytischen Teil, bewusst auf eine Gesamtbewertung der Befundlage verzichtet. Vielmehr soll unter pragmatischen Gesichtpunkten eine Aufarbeitung des Ist-Standes geleistet werden, indem das verfügbare Material unterschiedlicher Qualität systematisch erfasst wurde. Die kritische Diskussion einer Reihe vorliegender metaanalytischer Auswertungen zur Gestalttherapie einschließlich eigener (Re-) Analysen dienen dazu, am Ende des Buches Hypothesen für zukünftige Forschungsfragen zu erarbeiten.
Zuletzt werden sich angesichts der Datenmengen, die es zu bewältigen galt, trotz größtmöglicher Umsicht und Kontrolle Fehler eingeschlichen haben. Für Hinweise und Kritik bin ich dankbar.
Uwe Strümpfel
|